„Baby Reindeer” ist eine starke schottische autobiografische Miniserie, in der der Komiker Richard Gadd seine absurden 20er beschreibt. Mit einer Stalkerin, sexueller Gewalt (Triggerwarnung!), seiner Comedy-Karriere und ganz viel Selbstfindung unterschiedlicher Couleur. Oberflächlich betrachtet handelt es sich bei der Miniserie um eine Dramedy, weil Hauptfigur Donny durch seine humorvolle und selbstironische/selbstzerstörerische Art ganz amüsant ist, aber ultimativ handelt es sich um ein trauriges Drama, mit vielen unfassbaren Momenten, die ins Mark gehen. Die Geschichte basiert auf Richard Gadds Leben, er hatte bereits zuvor ein Theaterstück auf die Bühne gebracht und zeichnet sich bei der Miniserie für das Drehbuch und die Hauptrolle verantwortlich.
„Donny Dunn“ (Richard Gadd selbst) versucht sich als Comedian in diversen Pubs und Clubs mit eher mäßigem Erfolg, weswegen er auch als Barkeeper arbeitet. Am Tresen gibt er einer weinenden, verwirrt und verloren wirkenden Frau eines Tages einen Tee aus, weil diese vorgibt, kein Geld zu haben und er Mitleid für sie empfindet. Doch aus dieser harmlosen, netten Geste entwickelt sich eine ganz seltsame Beziehung. Die Frau in ihren 40ern (Jessica Gunning, hervorragend) fühlt sich sehr zu Donny hingezogen und kommt täglich zum Reden in den Pub, er möchte ihr aber nur eine Freundschaft anbieten und vertröstet sie ständig, statt einmal klare Grenzen zu ziehen. Schnell bemerkt man, dass die Frau mentale Probleme hat und kurz darauf entwickelt sie sich zu Donnys Stalker… In einem anderen Handlungsstrang versucht Donny irgendwie in der Comedy-Szene Fuß zu fassen und trifft einen deutlich älteren TV-Writer & Producer, der mit ihm Drogen nimmt und auch sexuelles Interesse an ihm hat. Das alles und noch viel mehr wird zu einem katastrophalen Chaos für Donny.
Die Miniserie umfasst insgesamt 7 Episoden, die überwiegend jeweils 30 Minuten lang und mit Inhalt vollgestopft sind. Die seltsame Ausgangssituation eskaliert im Verlauf der Geschichte ständig, vor allem die absurden und ekelhaften Textnachrichten „sent from iphone“, schockierende Erlebnisse und zahlreiche WTF-Momente – die ich nicht spoilern möchte – funktionierten für mich herausragend gut. Dennoch spürte ich eine gewisse merkwürdige Ambivalenz, da man der Hauptfigur ständig zurufen will: WARUM? Aber Trauma ist eben ein vielschichtiges Thema und nicht einfach so wegzuwischen. Die Verknüpfung von Comedy und schlimmen Drama gelingt überwiegend gut, auch wenn man eine gewisse Distanz zum seltsamen Donny aufrechterhält, dessen Handlungen man manchmal kaum nachvollziehen kann. Die Serie hat nach ruhigem Beginn ein gutes Pacing, zumindest ab Folge 3, und bietet einige zerstörerische, großartige Momente. Wenn ich an den einen unglaublich entwaffnenden Spruch zur Kirche denke, bekomme ich heute noch Gänsehaut, Donnys letztes Bühnenprogramm ist einfach nur krass. Natürlich hilft der Serie, dass sowohl Richard Gadd als auch Jessica Gunning absolut großartige schauspielerische Leistungen abliefern.
„Baby Reindeer” wurde auf Netflix schnell zum Hit und gewann 2024 insgesamt 6 Emmys. Im Jahr 2025 ist der Hype etwas abgeflaut und Netflix wird mit einer Verleumdungsklage der realen Stalkerin konfrontiert, zudem gibt es einige Kommentare von Weggefährten, die den Wahrheitsgehalt einiger Aktionen bezweifeln. Das alles fällt für mich weniger ins Gewicht, schließlich handelt es sich nicht um eine Dokumentation. Ich war von der Miniserie beeindruckt und bin grundsätzlich ein Fan davon, wenn jemand seine Biografie so schonungslos und verletzlich präsentiert – und dann auch noch selbst spielt.
„Rentierbaby” ist eine gelungene, recht kurze, eigenwillige, autobiografische Miniserie, die viele Töne sehr gut trifft, teilweise frustrierend ist und einen fassungslos zurücklässt, aber letztlich nur wenige Makel hat. Der Galgenhumor und die Selbstdekonstruktion in Verbindung mit einer Stalkerin und weiteren tragischen Geschichten hat für mich überwiegend gut funktioniert. Deswegen gibt es eine Empfehlung für alle (abseits der Triggerwarnung). Ich habe die Serie im Originalton geschaut und würde das aufgrund von Authentizität bei einer solch persönlichen Geschichte empfehlen.



