Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul – Das überzeugende, emotionale, türkische Drama als Geheimtipp!

Die türkische Drama-Miniserie „Bir Başkadır” für Netflix ist ein Exot in meiner Seriensammlung, den ich jedem ans Herz legen möchte. Eine gute deutsche Synchronisation senkt die Einstiegshürde. „Bir Başkadır” ist eine Ensemble-Serie, die vor allem die Rolle und die Probleme der Frauen mit verschiedenen kulturellen und sozialen Hintergründen in der heutigen Türkei in den Mittelpunkt stellt und ein breites Potpourri an verschiedenen Lebens- und Glaubensentwürfen respektvoll präsentiert. Ähnlich zu einem Episodenfilm werden immer mehr Figuren zu Hauptfiguren, wobei alle irgendwie mit der wahren Hauptfigur Meryem (Öykü Karayel) verbunden sind.

Die erste Folge der Serie hat mich umgehauen, ich möchte jedem empfehlen zumindest diese Pilotfolge zu schauen. Wenn sie einen packt: Wunderbar, wenn nicht kann man vielleicht bereits an dieser Stelle aufhören, denn dieses absolute Topniveau wird ansonsten nur noch in der letzten Episode erreicht. Zu Beginn folgen wir der jungen, „traditionell erzogenen“ Putzfrau (mit Kopftuch) Meryem, die häufiger Ohnmachtsanfälle erleidet und nach Besuchen bei Ärzten sich nun bei der Therapeutin Peri (Defne Kayalar) wiederfindet. Peri ist eine gebildete, wohlhabende Frau, die mit Religion wenig anfangen kann und damit so etwas wie der Gegenentwurf zu Meryem ist, obwohl die beiden ähnlich alt sind. Anfangs können die beiden Frauen nicht viel mit den jeweiligen anderen Lebensentwürfen anfangen und Meryem kann der Therapie wenig abgewinnen, im Laufe der Zeit verändert sich dies allerdings. Die beiden Frauen stehen im Mittelpunkt der Geschichte, die sich fortan auch auf zahlreiche weitere Figuren ausweitet. 

Nach dem starken Beginn wird dem Zuschauer zunächst alles über Meryems Familie präsentiert, vor allem ihre Schwägerin und ihr Mentor sind dabei wichtig. Darüber hinaus fokussiert sich die Geschichte auch auf die Therapeutin Peri und ihre Familie, bei der es eigene Probleme gibt, die Peri wiederum mit ihrer Therapeutin bespricht, genau wie ihre Sorgen über die gesellschaftliche Entwicklung der Türkei. Mit fortschreitender Handlung werden der Serie immer mehr Hauptfiguren hinzugefügt, die irgendwie die Wege mit den bereits bekannten Figuren kreuzen. Das wirkt natürlich etwas konstruiert, aber es fügt sich flüssig und vernünftig in die Handlung ein. Ich möchte auf die unterschiedlichen Charaktere gar nicht im Detail eingehen, stattdessen exemplarisch auf einige der Themen, die sie in die Geschichte einführen: Depressionen, Vergewaltigung und das Leben danach, Schauspielerei, Kurden in der Türkei, Ex-Militärs und das Spannungsfeld zwischen Religion und Homosexualität. Die Serie wagt sich damit auch an die schweren Themen heran, es handelt sich nicht um eine „Feel good”-Serie. Dabei steht häufig die Frage zwischen Konservatismus und liberalem Fortschritt im Zentrum, die Geschichten werden allerdings auch emotional stark aufgeladen und funktionieren ohne größeren Überbau oder das Wissen um die Historie.

Das facettenreiche und diverse Darstellerensemble weiß auf ganzer Linie zu überzeugen, die deutsche Synchronisation ist gut und kann die ursprüngliche Emotionalität des Originals beibehalten und vernünftig vermitteln. Das ist elementar wichtig für die Miniserie, die zu einem Großteil aus Dialogen besteht, bei denen häufig unangenehme und harte Themen besprochen werden. Eine weitere Stärke von „Bir Başkadır” ist, dass sie viele verschiedene Lebensentwürfe und welche Probleme diese mit sich bringen, thematisiert, sich dabei aber kaum auf eine Seite schlägt, sondern stattdessen in einer beobachtenden Position bleibt, die dennoch emotionale Nähe zulässt. Ein schwieriger Drahtseilakt, der vor allem aufgrund der guten Darstellerleistungen und der großartigen Machart gelingt. Denn offensichtlich sind die Macher große Fans des 70er/80 Jahre Epos-Kinos, ich fühlte mich in Teilen sogar an den Genrekönig „Once upon a time in America” erinnert. Die typischen schwarze Kinobalken, ein präsenter, nachhallender Soundtrack, sowie beeindruckende Bilder und Kamerafahrten sorgen für ein stimmiges Gesamtbild.

Jetzt habe ich so viel gelobt, warum ist die Serie denn nicht noch höher bewertet? Leider fehlt der Handlung durch ihren Episodenfilm-Charakter etwas der rote Faden, da die Zuschauer nur relativ kurz in das Leben der Figuren eintauchen und so mancher Konflikt dadurch vielleicht etwas oberflächlich bleibt. Die Serie erledigt allerdings dennoch einen guten Job, kulturelle Einblicke zu gewähren, die man sonst so nicht erhält. Bei anderen Themen fehlt mir etwas das kulturelle Verständnis, um alles umfassend erfassen zu können. Ich lerne allerdings gerne dazu, wobei ich den Sinn des seltsamen Gesangs am Ende der jeweiligen Folgen leider nie wirklich gefühlt oder verstanden habe. Doch das stört nicht wirklich, kulturelle Eigenarten sind ausdrücklich erwünscht auf einem Serienmarkt, der oftmals zu gleichförmig und dadurch langweilig wirkt (gerade bei US-Produktionen). 

Insgesamt möchte ich die Serie jedem empfehlen, der sich für Dramen jeglicher Art interessiert. Das Familiendrama, sowie die gesellschaftlichen Dramen stehen dabei im Vordergrund, vor allem aus weiblicher Perspektive in der heutigen Türkei. Ein schön gespieltes, emotionales Drama in einem (aus europäischer Sicht) kulturell ungewöhnlichen Setting. Ein Geheimtipp!

85/100
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