Adolescence – Das One-Shot Meisterwerk über einen schockierenden Mordfall. Review Miniserie

Ein echtes Produktionshighlight verbirgt sich hinter der Netflix-Miniserie mit dem etwas sperrigen Titel „Adolescence”: 4 Folgen, 4 One-Shots, 4x kein Schnitt für eine etwa einstündige Folge, 4 große Plansequenzen. Doch ist diese Serie nur ein Augenschmaus für Film- und speziell One-Shot-Enthusiasten, oder überzeugt sie auch inhaltlich? Glücklicherweise brilliert sie sogar stellenweise, so dass die britische Produktion ein hohes Rating bekommt.

Im Fahrwasser von Serien wie „Defending Jacob” oder „Your Honor” stellt die Serie einen 13-jährigen Jungen in den Mittelpunkt, der eine Mitschülerin getötet haben soll. Folge 1 wirft die Zuschauer unmittelbar in die zunächst überzogen erscheinende und für die Familie traumatische Verhaftung hinein, ehe gegen Ende der Episode die Fakten auf den Tisch gelegt werden. Folge 2 befasst sich mit der Motivsuche durch den leitenden Ermittler an einer Schule, die überragende Folge 3 ist ein fieses und bitterböses Kammerspiel, in dem Straftäter und Psychologin im Mittelpunkt stehen und Folge 4 kümmert sich um das Leben der Familie danach. Somit werden immer Tage herausgesucht, die „in Echtzeit” präsentiert werden. Trotz der starken Inhalts bleiben die One-Shots der Star, man kann nicht von der Hand weisen, dass die Machart eng mit dem Inhalt verwoben ist, weil sie große Nähe und Authentizität erzeugt. Denn ohne die extravagante Gestaltungsform wäre der Inhalt allein vermutlich eine gute und solide Miniserie geworden, durch diesen Kunstgriff wird sie etwas ganz Besonderes.

In Sachen Qualität, Dynamik und Intensität, wischt „Adolescence” mit seinen Mitbewerbern den Boden auf. Die aufwendigen One-Shots und das Darsteller-Ensemble sind das Faustpfand der Serie, die von Jack Thorne und Stephen Graham entwickelt wurde. Jack Thorne kennt man beispielsweise von „His Dark Materials”, „Toxic Town” oder auch dem bitterbösen „The Virtues„, bei dem er bereits mit Stephen Graham in der Hauptrolle zusammenarbeitete. Graham liefert als Schauspieler erneut vollumfänglich ab, Erin Doherty ist in Folge 3 ganz hervorragend, Ashley Walters überzeugt als Detective, aber überragend ist Owen Cooper in seiner ersten Rolle als Darsteller des jungen Straftäters. Die Machart könnte auch Probleme bergen, beispielsweise ergeben sich naturgemäß Vergleiche mit einem Theaterstück, aber „Adolescence“ wirkt nie steif und die Darsteller overacten nicht, zudem sorgen einige Kamerafahrten für eine gute Dynamik und die anerkennende Frage „Wie haben sie das jetzt gemacht”?

Ich bin generell großer Fan von One Shots, egal ob gefaked, wie in „Birdman” oder „1917”, oder echt – vor denen ich noch mehr Respekt hab – wie in „Boiling Point” (vom selben Regisseur Philip Barantini) oder dem deutschen „Victoria”. Für alle diese Filme und auch Adolescence möchte ich eine klare Empfehlung aussprechen. Es ist beeindruckend, wie viel Aufwand und Proben in dieses Projekt hineinfließen und wie eine Choreografie der Kamera und Akteure entwickelt werden muss: Doch das ist fantastisch, das ist Filmkunst. Nicht zu unterschätzen ist der Druck, der auf allen Beteiligten am Ende eines solchen One-Shots liegt. Dennoch sind die Darsteller überwiegend überzeugend, von vorne bis hinten werden die Dialoge nicht holprig, was gerade in intensiven Momenten, in denen Menschen übereinander reden, ganz großartig ist. Einzig bei der Verfolgungsjagd am Ende der 2. Folge spürt man ein wenig diese Angst vor dem Versagen (bei zu früh bremsenden Autos und dem fehlenden Tempo der Jagd). Manchmal merkt man, dass die ein oder andere Szene zu lang ist, man Teile bei normaler Produktion weggeschnitten hätte, oder dass im Hintergrund noch etwas oder jemand von A nach B bewegt werden musste, aber das habe ich in Folge 1 und 2 jeweils nur einmal kurz gedacht und danach nicht mehr. Letztlich ist die Machart außergewöhnlich und spricht für eine Topleistung dieses breiten Casts und aller Menschen hinter der Kamera. 

Die Story ist fokussiert, nimmt keine Umwege, gönnt sich keine unnötigen Twists, sondern setzt auf direkte Nähe und Authentizität. Alle, die ein großes Mysterium erwarten, sich wie bei „Defending Jacob” bis zur letzten Minute fragen möchten, was wirklich passiert ist, werden vielleicht enttäuscht sein. Musikalisch wird die Handlung gut und nur sehr akzentuiert unterstützt. Die Chorversion eines Sting-Klassikers fand ich mit einhergehendem Drohnenflug ganz wunderbar. Letztlich überzeugen Folge 1 und 2 mit hoher Dynamik, vielen Komparsen und vielen Ortswechseln. Episode 3 brilliert durch ein hervorragendes Kammerspiel der beiden Darsteller, Folge 4 wirkt etwas ungewöhnlich, wider Erwarten geht es nicht um die Gerichtsverhandlung. Somit brauchte ich ein bisschen länger, um die letzte Folge wirklich wertschätzen zu können. Folge 1 und 3 sind sicherlich inhaltlich stärker als die 2. und 4. Folge. Dennoch gelangt die Miniserie zu einem vernünftigen Ende, das mit etwas Abstand bei mir auch wächst. In dem Moment war ich noch etwas enttäuscht, denn es gibt keinen großen Knall mehr, die letzte Szene ist aber dennoch herzzerreißend.

„Adolescence” ist ein echtes Überraschungs-Highlight, vor allem durch seine One-Shot-Machart, die man gerade in Serienform eher selten sieht. Eine Miniserie, die ich jedem empfehlen möchte.

85/100
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