„The Virtues” ist eine fiese, und bittere 4-teilige britische Miniserie, die ich sehr empfehlen möchte. Dennoch kann ich die Serie nicht uneingeschränkt empfehlen, sondern muss eine klare Triggerwarnung aussprechen, denn hier geht es in depressiver, düsterer Stimmung um Kindesmissbrauch. Mutmaßlich liegt es auch am sehr schwierigen Thema, dass diese starke Miniserie mit dem großartigen Stephen Graham in der Hauptrolle nicht mehr Aufmerksamkeit bekommt. Sie ist somit ein kleiner Geheimtipp.
Die Serie wurde von Shane Meadows (This is England) und Jack Thorne (Toxic Town, Adolescence, His Dark Materials) konzipiert, die bereits häufiger bewiesen, dass sie schwierige Themen gut und vor allem authentisch darstellen können. Das gelingt besonders stark in „The Virtues”, was vor allem an Stephen Graham liegt, der den äußerlich harten Kerl Joseph mit sehr fragilem Kern spielt. Der rund 40-jähriger depressive Mann wird zu Beginn damit konfrontiert, dass seine Ex-Frau mit ihrem neuen Partner und dem 9-jährigen gemeinsamen Sohn nach Australien auswandern wird. Die bevorstehende Trennung wirft ihn in eine Abwärtsspirale, er flüchtet zunächst in den Alkohol, sogar ins „Komasaufen”. Mit seinem letzten Geld macht er sich von England auf in seine ursprüngliche Heimat Irland, um dort nach neuem Sinn, einem Halt oder Antworten zu suchen. Diese sucht er vor allem bei seiner Schwester Anna (Helen Behan), die er seit über 30 Jahren nicht gesehen hat, nachdem er mit 9 aus dem Waisenhaus floh. Doch diese Reise in die Vergangenheit triggert in ihm längst verdrängte und tief begrabene Traumata. Er darf dabei zunächst bei seiner Schwester wohnen und freundet (und mehr?) sich auch mit Dinah (Niamh Algar), der Schwester seines Schwagers, an, die selbst auf eine bittere Vergangenheit zurückblickt.
Die Serie beginnt mit dem Nackenschlag für unsere Hauptfigur schon bitter und wird mit fortwährender Dauer nur noch bitterer, bis die Handlung schließlich in einer fantastischen letzten Episode kulminiert. Vor allem die erste Folge hatte durch den Fokus auf die Alkoholabhängigkeit für mich „Leaving Las Vegas” in Großbritannien Vibes mit seinen Höhen und Tiefen, im weiteren Verlauf fokussiert sich die Serie aber auch auf die Ursprünge von Josephs Alkoholismus. Diese glaubhaft gefilmten Szenen, die rund 30 Jahre zurückblicken, behandeln vor allem Josephs Zeit als Kind im Waisenhaus. In diesen Momenten wird die düstere Richtung der Handlung immer deutlicher und die Szenen sind teilweise wirklich schwer anzusehen. Auch der unerwartete Fokus auf Dinah mit ihren eigenen Problemen fördert weitere traurige Geschichten zu Tage. Das größte Faustpfand der Serie sind ihre sehr überzeugenden Darsteller, die große Emotionalität und Nähe zulassen. Somit schlittert die Serie von einem emotional-harten Dialog in den nächsten, während man gleichzeitig gar nicht mehr sehen möchte, aber auch emotional in der Handlung gefangen ist. Die Szenen sind teilweise – korrekterweise – unangenehm und untypisch lang, was für eine höhere Authentizität und Immersion sorgt. Dabei steht immer wieder das Thema der Schuld im Mittelpunkt und auch die Frage nach Vergebung oder Rache.
Die Miniserie ist gut produziert und sehr schön gefilmt. Durch die von Musik untermalten Montagen zu Beginn der Episoden wird eine schwere, teils depressive Grundstimmung aufgebaut, die vor allem in den mittleren Folgen aber immer wieder auch durch gute Situationskomik aufgebrochen wird. In Teilen sind mir die beschrittenen Wege der Handlung etwas zu klischeebeladen oder klassisch, das fällt allerdings nicht weiter ins Gewicht. Dennoch ist „The Virtues” eine Serie, die man nicht in allzu depressiver und trauriger Stimmung anschauen sollte, da sich durchaus im Elend gesuhlt wird und die positiven Silberstreifen am Horizont auf sich warten lassen. Die letzte Episode, in der alles zusammenläuft, ist das Highlight der Serie. Was für eine Tour de Force, rund um Elend, Vergebung und viele weitere konsequente und grauenvolle Handlungen. Eine Folge TV, an die in ihrer Intensität und dem was erzählt wird, nur wenig heranreicht. Danach muss man erstmal eine Weile durchatmen. Ob man die Charakterhandlungen komplett nachvollziehbar findet, muss jeder selbst urteilen, ich empfand es als sehr gelungenen Abschluss auf verschiedenen Ebenen.
„The Virtues” ist trotz ihrer Kürze eine Serie, die ich eine längere Zeit über nicht vergessen konnte und an die ich heute mit etwas Ehrfurcht zurückdenke. Eine Serie, die ich sicher kein zweites Mal schauen möchte, angesichts ihrer schweren Themen, aber eine Miniserie, die jeder Serienenthusiast gesehen haben sollte, den die Triggerwarnung nicht zu sehr abschreckt.



