„Ein guter Mensch” oder „Sahsiyet” im türkischen Original ist ein echtes Highlight, vor allem in seiner ersten Staffel. Die wilde Mischung aus Alzheimer-Drama, Rachethriller und Krimiserie, die darüber hinaus zahlreiche abstruse und komödiantische Momente bietet, war eine große positive Überraschung. Ich hätte nie geglaubt, dass mich diese Serie so sehr packen könnte und wenn am Ende der 1. Staffel alles zusammenläuft, ist das unfassbar bitter, aber auch großartig. Diesen Geheimtipp möchte ich jedem ans Herz legen.
Groß war meine Verwunderung, als ich zum ersten Mal „Ein guter Mensch” bei Amazon Prime sah. Auf dem Thumbnail sah ich einen älteren Mann, der eine Leiche im Kofferraum verstaut. Dies packte meine Aufmerksamkeit, sodass ich daraufhin die überraschende IMDb-Bewertung überprüfte: Eine türkische Serie mit einer Bewertung über 9/10? Das wäre eine der besten Serien überhaupt. Kann das stimmen? Zumindest für die erste zwölfteilige Staffel ist diese Bewertung vollkommen verdient. Das sah nicht nur ich so, sondern auch alle weiteren Personen in meinem Umfeld, die die Serie nach meiner Empfehlung schauten und sie alle sehr lobten.
Der 65-jährige recht einsame, etwas seltsame Agâh Beyoglu (Haluk Bilginer, emmywürdig) lebt zurückgezogen in einer Mietwohnung in Istanbul, vor seiner Rente war er Angestellter beim Gericht. Eines Tages ändert sich sein ruhiges Leben durch eine Diagnose beim Arzt: Alzheimer, zunächst noch im Frühstadium. Dieser Schock verleitet „Agâh Be” dazu seine letzten Ziele im Leben umzusetzen, die er bislang aufgeschoben hatte. Doch diese haben nichts mit einer letzten großen Reise, dem Schreiben eines Buches oder Enkelkindern zu tun, sondern… mit Mord und Rache. In seinem Heimatort wurde vor vielen Jahren ein schlimmes Verbrechen begangen, er möchte die damaligen Täter zur Rechenschaft ziehen – was sich als nicht einfach herausstellt, da er bereits viel vergisst und damit nicht zwingend der perfekte Killer ist. Überraschenderweise gibt es neben dem zweifelhaften Helden der Geschichte noch eine weitere Hauptfigur, Nevra Elmas (Cansu Dere), eine Polizistin, die Agâh Be langsam auf die Spur kommt. Doch sie hat selbst mit großen Widerständen innerhalb ihrer Behörde zu kämpfen, da sie die einzige weibliche Kommissarin in der Istanbuler Mordkommission ist. Einige ihrer Kollegen geben gerne misogyne Kommentare ab, viele der Herren trauen ihr nichts zu und blicken aufgrund ihres modernen Lebensstils auf sie herab. Doch Nevra erkennt als einzige die Verbindungen zwischen den Morden und dem Verschwinden mehrerer Leute und kommt der Lösung des Falls näher, während Agâh Bes Gedächtnis mehr nachlässt, er wahnsinniger wird und irgendwann in einem wundervollen Hasenkostüm durch die Gegend rennt, das wiederum die Jugend begeistert – Donnie Darko lässt grüßen.
Aus dieser Ausgangssituation entwickelt sich eine hochgradig groteske, absurde, immer größer werdende Geschichte, die man erst nach ein paar Folgen wirklich verstehen und greifen kann. Die Vielzahl an Figuren und ihre im europäischen Kulturkreis nicht allzu geläufigen Namen erschwerten mir anfangs alle Verbindungen zu verstehen, aber im Laufe der wunderbar erzählten und inszenierten Geschichte fällt das immer weniger ins Gewicht, vor allem wenn mehr von der Vergangenheit erzählt wird.
„Ein guter Mensch” ist ein fein komponiertes Werk mit hohem Produktionsaufwand, sehr passender Musik und hoher visueller Kreativität. Auf den ersten Blick könnte man die Serie kaum von hochwertigen US-Serien unterscheiden, dennoch fühlt sich „Sahsiyet”, frisch an, weil die Geschichte in der Türkei spielt und das Setting somit ein anderes ist. Dies ist ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal einer Serie, die auch durch ihre Ausgangssituation bereits eine eigene Identität entwickelt. Doch die Türkei-Komponente mit einer Gesellschaft und zahlreichen Konflikten zwischen Tradition und Moderne, Religion und Atheismus, Mann und Frau sowie moralische Fragen werten die Serie gekonnt auf.
Die Regie, Kamera und Produktion der Serie kann auf ganzer Linie überzeugen. Die kreativen Ideen der Kameraeinstellungen und -fahrten, die starke Symbolik und die zahlreichen visuell großartig wirkenden Absurditäten, wie das Hasenkostüm, ließen mich innerlich jubeln. Ich fühlte mich verstärkt an „Mr. Robot” erinnert, aus meiner Sicht kann es kaum ein besseres Kompliment geben. Die Inszenierung und die Drehbücher bilden eine gekonnte Symbiose, Regisseur Onur Saylak beweist ein feines Gespür für Timings. Teilweise vermischt sich Slapstick-Humor gekonnt mit Gewalt, daraufhin gibt es großes Drama mit viel Emotionalität, dann dominieren Verschwörungs-Thriller-Themen, dann Familienprobleme, dann die kaltblütige Rache und dann grüßt wieder der Alzheimer. Doch dies ist keine wirre Aneinanderreihung von Themen, sondern ein hervorragender Krimi-Thriller mit Dramaelementen. Diese verrückte Melange spielt die Klaviatur der verschiedenen Genres überwiegend überzeugend und weiß inhaltlich darüber hinaus stets zu überraschen. „Ein guter Mensch” ist relativ dialoglastig, glücklicherweise sind die Dialoge allerdings gut ins Deutsche übersetzt. Schauspielerisch ist Haluk Bilginer eine Wucht, ganz große Klasse, das restliche Ensemble hat nicht seine Qualität, ihre Rollen verkörpern die Darsteller allerdings dennoch glaubwürdig und mit genügend Tiefe.
Mein einziger kleiner Kritikpunkt ist, dass es den ein oder anderen Handlungsstrang am Ende vielleicht nicht gebraucht hätte und man die 1. Staffel leicht hätte straffen können, aber das ist zu vernachlässigen. Denn die Folgen sind nie langweilig, die Macher verstehen es in hoher Frequenz Höhepunkte und krasse oder absurde Momente zu präsentieren. Somit ist das Pacing gut und „Ein guter Mensch” bleibt über die volle Laufzeit der ersten Staffel sehr unterhaltsam. Auch das Ende der Staffel ist rund, die letzten beiden Episoden sind geradezu brillant und damit steht der uneingeschränkten Empfehlung nichts mehr im Wege.
Staffel 2 erschien bereits 5 Jahre nach der 1. Staffel und man merkt sofort, dass sie ursprünglich nicht geplant war. Zum einen, weil das vorherige Ende wirklich grandios passend war, zum anderen, weil ein mysteriöses Alzheimermedikament Agâh Be auf einmal wieder zurück ins Leben holt. Doch damit nicht genug: Nun will sich der Bruder eines seiner vorherigen Opfer an ihm und seine Familie rächen, denn er hatte mafiöse Verbindung und kommt eigens dafür zurück in die Türkei. Nach dem recht zweifelhaften Setup verstrickt sich die Handlung in der ersten Hälfte in einem Roadtrip-Familiendrama mit vielen Comedymomenten und einer recht wirren Erzählstruktur, bei der man wenig von den Hauptthemen greifen kann (passend zu Agâhs Gedächtnis). Erst ab der starken 6. Folge nimmt die 2. Staffel Fahrt auf, wird deutlich ernster und stringenter, so dass sie sogar teilweise an das Niveau der 1. Staffel heranreichen kann. Klassische Mafiathemen gewinnen Überhand, doch auch der Kriminalfall rund um die 17 Ermordeten und ihre Überreste kann überzeugen. Zudem werden einige lose Fäden der 1. Staffel aufgenommen und verbunden, um ein letztlich gelungenes, aber auch polarisierendes Serienende zu formen. Regie, Kamera, visuelle Spielereien, die Lichtstimmung, der Soundtrack, der Aufwand, die Sets: Alles ist weiterhin großartig. Doch die Handlung erreicht nie den Höhen der 1. Staffel. Dennoch ist die 2. Staffel weit von einer Katastrophe entfernt und für Fans des Rächers im Hundekostüm immer noch sehenswert. Doch gebraucht hätte es die 2. Staffel nicht, sie sorgt leider dafür, dass die Serie in der Gesamtbewertung aus meinen Top 5 heraus purzelt.
„Ein guter Mensch” ist überraschend anders, frisch und sehr unterhaltsam. Wer auf der Suche nach einem Geheimtipp ist, der sollte sich die beste türkische Serie überhaupt ansehen! Man kann allerdings auch nach Staffel 1 mit dem krönenden Abschluss aufhören, da man das Beste gesehen hat.



